Betrachtet man die Zeitung, so sieht man schnell, dass ihr Konzept/Kultur stark der Gutenberggalaxis folgt. Man* könnte auch sagen: Die Zeitung ist das tägliche (oder wöchentliche) Newsbuch. Selbstverständlich gehört zur Zeitung, wie wir sie heute kennen oder deren letzte Exemplare wir erleben, natürlich auch der Rotationsdruck. Aber auch hier handelt sich letztlich um eine Evolution im Druckverfahren, wie es Gutenberg entwickelte. Und diese Innovation machte die gedruckten Tageszeitung selbst in der heutigen Form möglich. Sie ist ein Massenprodukt.
Die Zeitung – das Newsbuch
Das zur GutenbergGalaxie führende Buch beinhaltete (siehe dazu etwa Giesecke) kleine Welten, man könnte auch sagen: eine kohärent zusammenhängende Welt. Eine Art Virtuelle Realität für die Lesenden, die sich im besten Fall – bei einer Zeitung – mit der analogen Realität befasst.
Diese Idee von einer Klammer pro Buch (Wissenschaftliche Texte müssen das bis heute haben, Romane verwenden ebenfalls kohärente Narrationsmechaniken) ist bei der Zeitung der „Tag“. Der gestrige Tag hält die Zeitung zusammen. Es sind die aktuellen Nachrichten von gestern die hier abgebildet werden. Jede Zeitung besitzt wie jedes Buch eine Art Inhaltsverzeichnis – das meist nicht ausgeschrieben ist, aber klar ist auch weil es oft oben auf jeder Seite steht. Es sind sogenannte Bünde (gefaltete aber ungebundene Blätter), die beinhalten quasi die News der Welt: wie etwa Ausland, Inland, Lokal, Kultur, Sport. Selbstverständlich haben diese Kategorien in der Geschichte der Zeitung variert und sich dem Zeitgeschehen und der sich verändernden Kultur angepasst.
Der Leser* der Abonnent*
Leser* von Zeitungen, waren oft langjährige Abonnenten. Es gab sogar Familien, da ‚vererbte‘ quasi sich die Zeitung mittels geschenktem Abo und mit dabei auch die Einstellungen. Da gab es NZZ (rechts-liberal) oder eher Tagesanzeiger (mitte-links-liberal). Und natürlich die Weltwoche als kritische liberale Wochenzeitung oder die WOZ (kritisch-links) als Ausgleich. Die Zeitungen waren dabei an ihre Kunden gebunden und somit auch ihr Inhalt. Auch bei den Produzenten war klar: Die Leute schrieben meist für einen dieser Kanäle. Das Wechseln von Werbung zu Redaktion war verpönt und das war klar: Werbung ist „Prostitution“. Die Verleger hatten auch mehrheitlich einen inneren Auftrag. Sie wollten es und sei es nur Aufklärung. Selbstverständlich wollten sie auch Geld verdienen und brauchten Auflage, ihre gesellschaftliche Funktion war aber noch mehr: Sie wollten Teil der Aufklärung, der Kritik sein im besten Fall. Heutige Verleger scheinen mehrheitlich davon noch nie gehört zu haben oder blenden diese Tradition bewusst aus.
Zeitung lesen – die Welt in der Hand
Der Leser* von Zeitungen nahm also die oft ins Haus gelieferte Zeitung in die Hand. Die vorderste Seite (niemals mit Werbung! denn man hätte ja sein Gesicht verkauft) zeigte das aktuell Wichtigste auf der Welt oder Lokal.
Dann ging der Artikel irgendwo weiter in der Zeitung, was oft eine Suche sondergleichen sein konnte. Dann las der Leser* sich durch die Zeitung. Von der Welt bis ins Lokale. Dabei waren die verschiedenen Teile der Zeitung wie das Gesellschaftsystem mit seinen Teilsystemen klar getrennt. Sowohl inhaltlich wie auch personell. Da schrieb der Auslandteil mit seinen ‚Experten, das Inland und die Politik und dann ja etwa die Lokalpolitik. Die internen Ressorts scheinen – so zumindest von aussen – teilweise unversöhnlich gewesen zu sein. Anders lässt sich nicht erklären wie in Zeitungen wie der NZZ der Lokalteil meist unter jedem „Niveau“ war inhaltlich wie politisch. Dazu kamen externe Artikel, die weit höhere Qualität hatten, da hier der Autor* um seine Renomee kämpfte und darum nicht nur 8 Stunden arbeitete. Viele Zeitungen leben längst in Sachen Renomee von diesen Externen*.
Selbstverständlich ‚bildete‘ die Zeitung dabei auch fast alle Bereiche des ‚bürgerlichen‘ Lebens ab: Von der Todesanzeige bis zu Jobs alles war hier enthalten. Je nach Wochentag auch mit der einen oder anderen Beilage.
War der Lesende durch, so hatte er* 3 oder 4 Artikel gelesen, die interessant waren. Wobei immer auch klar war, las man in einem Bereich den man kannte, kam oft heraus, das es eben Journalismus mit Ressorts war, die Tiefenkenntnis aber nicht unbedingt gewährleistet war. Wie waren wohl die anderen Bereiche, wo man kein Experte war? Man musst der Zeitung als Leser irgendwie vertrauen. Das war gerade auch schwierig, wenn klar wurde, dass viel in Zeitungen auch den Launen und Interessen der Journalisten* unterworfen war und viele Stories rein dann zur Story wurde, wenn es Journalisten* persönlich betraf. Man denke an all die persönlichen Erlebnisse in Zügen, Trams und Autos. Da dient(e) oft die Leserschaft als Legitmation für eigentlich eigenes Erlebtes.
Iteratives Lesen
Hinten angelangt drehte der Leser* die Zeitung und begann von vorne. Er* konnte ja nichts anderes machen, etwa im Zug und er hatte schliesslich dafür bezahlt und las die 2te Auswahl und vielleicht noch die dritte. Denn eines war klar: das Newsbuch Zeitung wurde am nächsten Tag ja aktualisiert. Klar war auch, das die Zeitung von heute sich immer auch auf die Zeitung von gestern beziehen konnte, den es waren Abonnenten.
In Zügen lagen dann oft auch bezahlte Zeitungen herum. Oder es fehlten interessanterweise ganze Bünde und der Rest war da. Es gab also eine Art gemeinsames Lesen von unterschiedlichen Standpunkten von verschiedenen Zeitungen.
Ausgelesen
War eine Zeitung bis auf den letzten Text gelesen, dann konnte man wirklich von ausgelesen reden.
Die kleine Welt Zeitungen
Die Zeitung bildete also die (ausgewählte) Welt auch physisch ab auf Papier, man* war gezwungen sich an Themen vorbei zu lesen, zumindest die Leads zu lesen, das Bild anzuschauen und zwar in allen Bereichen, denn man kam nicht zu einem Teil, wenn man sich nicht durchblätterte oder gar den richtigen Bund suchte. Das analoge Papier verhinderte geradezu den heutigen Klick – den er war körperlicher Minimalaufwand, aber eben kein Klick oder Wischen durch diese aktuelle und selektierte Welten. In ihnen galt selbstverständlich der Autoren* geschriebene Text als das Mass der Dinge. Und diese Texte waren überarbeitet und überarbeitet worden, es gab ein Korrektorat. Es behob auch inhaltliche Probleme. Agenturmeldungen (heutiger Hauptinhalt von vielen Zeitungen) waren ein eigenes Blatt.
Oder anders gesagt: Hier war der Autor auch in einem gewissen Sinn tot, denn es schrieb vorallem das Medium. Der Addressat und Endkunde war der Leser* und nur im marginaleren Teil – so zumindest die Idee der Leser* – Werbung und der Werbekunde. Selbstverständlich wurden Zeitungen auch darüber finanziert. Aber sie waren halt nicht „gratis“, was gleichbedeutend ist mit: Der Leser* ist nicht der Kunde. Werbung störte in diesem Leseverhalten eher.
Diskussionsgrundlage Zeitungsinhalt
Selbstverständlich war dabei klar, was in der Zeitung steht, war an diesem Tag Diskussionsstoff in der Kantine, bei der Arbeit und man konnte sogar darauf schliessen, was Leute diskutierten, was Leute redeten. Man* las also die Zeitung nicht unbedingt, um zu wissen, was passiert, sondern weil man wissen wollte, was man reden konnte. Oder anders gesagt, was sag- und diskutierbar war.
Massenmedium Zeitung
Die Zeitung ist und war selbstverständlich ein Massenmedium. Das sieht man noch heute in der NZZ in den Sitzungsräumen ganz oben an der Falkenstrasse: Von der Decke strahlt der NZZ Schriftzug und beleuchtet den Rest. Dieses Selbstverständnis war natürlich klar vorhanden. Man definierte sogar die eigene Rechtschreibung im Fall der NZZ.
Und diese Sendungsbewusstsein war oft auch fragwürdig, gerade wenn es Klientelpolitik war. Wenn es also gar nicht, um die Leser* ging sondern um etwa das Schweizer – oder Zürcher Establishment. Dennoch verstanden sich viele Verleger als die 4. Gewalt. Oft auch als ‚richtende‘ vierte Gewalt. Und diese ‚Gewalt‘ wurde auch ausgenützt. In Zürich bis hin zu Professorenwahl mit Sätzen wie „Der hat doch noch nie der NZZ geschrieben. Als hätte die NZZ irgendwas mit der UniZürich zu tun. Oder doch? Man* lenkte die Welt.
Der Tagesanzeiger wie die NZZ waren lange Zeit Medien mit grosser Reichweite und geschätzt wegen ihrer AusserDeutschen oder Französischen Perspektive. Gerade während der Zeit im zweiten Weltkrieg. Die Oberen der NZZ wollten sich an den Bäumen vor der Falkenstrasse aufhängen, wenn die Nazis kämen. Das ist alles Geschichte und die zwei Zeitungen spielen inzwischen in der Lokalliga – wenn die NZZ auch versucht in Deutschland ‚mitzuschreiben‘ in alter Massenmedienmanier heute am rechten Rand. Dabei spielt Liberalismus nicht mehr wirklich eine Rolle, libertäre Haltung hingegen schon.
2000er Jahre – Konkurrenz Gratiszeitungen und Web
Um 2000 kommt diese an die Gutenberggalaxis angehängte Welt ins Trudeln. Das Web steht vor der Tür und eine ganz andere andere Art zu lesen. Der Link als neue Möglichkeit lädt zum schnelleren Wechsel ein zum Weiterlesen und beendet ein Teil der klassische Leseart. Die immer war: Vom Anfang bis zum Ende. Von Buchdeckel zu Buchdeckel (oder Karton). Oder eben vom Titel, über den Lead zum Ende des Artikeltextes.
Die Schweizer Zeitungen/Verlage wehren sich dagegen, allerdings ohne konkrete Ideen zu haben. Sie bauen Webpräsenzen auf teilweise auch Teams, diese vernachlässigen sie aber mehrheitlich (EinMannKämpfer etwa beim Blick) und stellen sie dann völlig ohne Grund ein, wie etwa die NZZ. Die Zeitungen dachten, sie hätten es ausgestanden! Sie dachten Dotcom sei das Ende all dieser Medien.
Dabei begingen sie einen weiteren Fehler, sie pflegten ihre integralen Services der damaligen Zeitung nicht wie etwa Jobsuche, die die Zeitungen querfinanziert haben. Stattdessen überliessen sie dies – es ist Datenbanktechnologie – Externen und mussten diese nachher teuer zukaufen (jobs.ch). Diese werden dann aber nicht in der Mischrechnung analoge/digitale Zeitung integriert etwa beim Tagesanzeiger, sondern blieb ein eigenes Profitzentrum. Die Zeitung wurde auch also in ihren Services zerschlagen.
Dazu kommt ein weiteres Problem. Die Gratiszeitungen. Diese versuchen sich zu etablieren in Zürich auch um 2000. Dabei gab es Metropol (etwas gehobener) und 20Min. Diese Zeitungen waren/sind Gratiszeitungen. Das heisst: keine Abonnenten, der Kunde ist letztlich der Werber*. Interessanterweise sind etwa 20-25 jährige Studierende bis heute nicht in der Lage mehrheitlich zu verstehen, dass sie gar nicht die Kunden dieser Zeitungen sind, sondern die Werber*!. Hier haben also Gratiszeitungen es geschafft, sich nicht etwa als die Gratisblätter vom Land darzustellen, sondern als vollwertige Zeitungen!
Das Rennen machte längerfristig 20Min. Das es auch anders geht zeigen andere Städte gerade in Deutschland. Im liberalen Zürich jedoch wollte der Tagesanzeiger in diesen Werbebereich auch Geld machen einem aufpolierten Tagblatt. Es stellte ein Team auf, bereitete den Redaktionsalltag vor, eine Webseite, es organisierte den Druck, die Verteilung und es wollte 20Min Konkurrenz machen. 12 Stunden bevor die Zeitung erschien, gab TAMedia bekannt, dass sie 20Min für 51% übernommen habe. Die eigene Gratiszeitung Tagblatt wird eingestellt ohne je eine Nummer herausgebracht zu haben (aber diese existierte) Es ging letztlich nur darum den Preis zu drücken. Der Preis war allerdings für die Presselandschaft hoch.
Was danach folgte war klar: ein stetig sinkende Auflage und Qualität bei TAMedia und der NZZ. Statt gegen den Trend zu halten mit mehr Infos, mehr, was man nicht auf dem Web lesen konnte, wurde es immer weniger.
20Min betonte, dass sie Lesende* gewonnen hätten, die sonst nicht gelesen hätten. Aber waren das dieselben Leser bei denen es auch um Bildung ging wie in den alten Zeitungen? Oder anders gefragt: Sind Agenturmeldungen wirklich als „tiefgreifendes Lesen“ zu bezeichnen? Was dabei 20Min zudem verschweigt (weil es ja auch TAMedia ist): das Ganze geht natürlich auf Kosten der Qualität in den anderen Medien wie Tagesanzeiger. Die Folgen sind auch klar: Die Ansprüche an Zeitungsartikel fallen weiter. Dazu kommen immer öfter auch All-Inclusive-Redaktionen zum Einsatz, das sind Redaktionen die für alle angehängten Medien produzieren. Qualität ist dann angeblich nur noch eine Einstellung beim Artikel. Was als schöne Welt um 2000 begann, war schnell ein Albtraum für Autoren* wie auch für Leser*.
Newsportale – das andere Lesen
Selbstverständlich ändert sich auch das Leseverhalten und Anforderungen durch digitale Texte im Web. Diese sind News und Datenbank geprägt. Hier kommt und gehen die Inhalte. Es gibt keine analoge Ordnung, kein Ritual der Bünde. Niemand ist gezwungen auch nur darüber zu blättern.
Dadurch – so zumindest die Anfangshoffnug des Mediums – konnte endlich auch vertieft gelesen werden. Es war die Idee, dass die Texte verzweigen. Das Gegenteil ist passiert : Es gibt Titel und Headers und danach wieder Bleiwüsten wie in den Jahrhunderten davor (mit Bildern ja), aber es sind klassische Texte. Der Link ist weitgehend verschwunden (da könnten die Leser ja ‚escapen‘ dem eigenen Brand.
Dieser Vorteil ist wie immer auch gleichzeitig der Nachteil. Zwar wurden die Texte aus ihrer Bundstruktur befreit, aber diese Befreiung führt nun auch dazu, dass die Texte letztlich nur noch lose verortet sind. Klar gibt es zumindest auf Newsportalen noch so etwas wie eine Ordnung via Rubriken. Aber das verschwindet, weil die Frontseite permanent wechselt. Aus einer oder zwei Stories werden 100 aus verschiedensten Bereichen.
Die Welt wird also stetig linearsiert und aufgesplittet. Es ist viel schwieriger als im Aufschreibesystem Zeitung einen Überblick zu behalten. Denn das Medium generiert in nicht mal mehr im Ansatz wie in der Zeitung. Das Medium Newsportal orientiert sich eher (auch wegen der Clickhaftigkeit) eher am Newsticker und seinen permanenten Auswertungen der Artikel als einer Ausgabe pro Tag der ganzen Welt. Endlos „rattert“ die Scrollschrift. In Echtzeit wird die Newsoberfläche abgedatet. Selbst das Radio und danach das Fernsehen aktualisierte sich jeweils zur vollen Stunde oder einmal alle 6 Stunden. Bei 20Min lief etwa die Live-Statistik der Webseite an der Wand und ging es runter, musst(e) ein Artikel mit Sex oder Autos auf die vorderste Seite. Anders gesagt, TAMedia hatte mit 20Min auch sein Boulevard eingekauft. Aus täglichem Update wurde ein Tickerupdate.
Letztlich sind wir tatsächlich im Globalen Dorf angekommen von McLuhan mit einem Körper, dem nicht mehr einmal pro Tag oder stündlich die Welt an den Kopf geworfen wird, sondern sekündlich. Wir sitzen live am Stammtisch den ganzen Tag. Es ist fast nicht möglich sich zu entkoppeln und selbst zu reflektieren.
Inline-Weltnachrichten
Was diese Art von StreamingNewsdiensten betrifft, gibt es eigentlich eine einfache Lösung: Newsportale und „Social Media“ müssen gesetzlich dazu gezwungen werden, wichtige Informationen darzustellen aus all den verschiedensten Bereichen (Bünden). Heutige Datenbankinfrastruktur ermöglicht es zudem dafür zu sorgen, dass die Sachen auch ankommen. Das ist eine Möglichkeit einen Zugang zur Welt, zu garantieren. Dabei könnten diese Inlineweltnachrichten von NGOs/Wissenschaft kommen, so dass diese so wenig wie möglich staatlich abhängig sind. Damit würde auch eine autoritäre Auslese unterlaufen.
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