Gamekultur als Leerstelle in der Geschichte der Schweizer Jugendkulturen?

Beat Suter

„A Walk on the Wild Side“ hiess ein Handbuch zur Geschichte der Jugendszenen in der Schweiz, das 1997 vom Stapherhaus Lenzburg herausgegeben wurde. Es war eine umfassende Darstellung der Jugendkulturen der Schweiz im 20. Jahrhundert, die auch in zwei Ausstellungen in Lenzburg und Bern gezeigt wurde. Jugend wurde von den Autoren als Seismograph der Gesellschaft verstanden, die sich herrschenden Normen und Kultur widersetze sowie Aufbruch und innovative Kraft in sich vereine. Das Handbuch versuchte die Geschichte der Jugendszenen als Längsschnitt darzustellen und möglichst breit alle Szenen und Stile zu erfassen. Die Pluralisierung der Jugendkulturen und die individuelle Autonomie standen dem mutigen Unternehmen zwar etwas im Wege, doch das Handbuch leistete gute Arbeit und schaffte eine spannende beinahe vollständige Darstellung der Jugendphänomene und Gegenkulturen in der Schweiz des 20. Jahrhunderts.

Abb. 1: Handbuch „a walk on the wild side“ zu den Jugendszenen der Schweiz, erschienen 1997 als Katalog einer Ausstellung. Quelle: Suter

Der Autor dieses Artikels, nun Forscher im Projekt CH-Ludens, erinnerte sich, dass er damals auch einen Beitrag zum Handbuch beigesteuert hatte (zu Hip Hop und Graffiti). Heute ist er mit der Forschungsgruppe CH-Ludens an der Arbeit, die Geschichte der Schweizer Video Games und des Game Designs in den Jahren von 1968 – 2000 zu untersuchen. Die Parallelen sind nicht zu übersehen. Der zeitliche Rahmen überschneidet sich stark mit den Jugendkulturen, die im Handbuch „A Walk on the Wild Side“ beschrieben wurden. Die meisten Game Designer und Protagonisten der Demoscene jener Jahre (1980-2000) waren ebenfalls jung, oft sehr jung. Sie widersetzten sich ebenfalls bestimmten gesellschaftlichen Normen, ja sie waren aber vor allem auch innovativ unterwegs und formten neue, nun digitale Ausdruckformen. Sie waren aber auch Aussenseiter in der Gesellschaft wie viele der Jugendszenen, die im Handbuch gewürdigt werden und schufen sich ihre eigenen Nischen, in denen sie prosperierten. Aber offensichtlich waren sie so stark unbeachtet gebleiben als Aussenseiter, dass sie es nicht in dieses breite Handbuch von 1997 geschafft haben.

Im Handbuch gibt es auch Artikel, die eher thematisch ausgerichtet sind, sie beschäftigen sich mit Aufklärung und Sex oder mit Drogen und Drogenszenen oder mit Geschlechter Experimenten oder mit Radiosendern für Jugendliche, ja es gibt sogar einen Artikel, der sich mit der Darstellung der Jugendszenen im Schweizer Film befasst, aber nichts zum Thema Computer. Vergebens sucht man Referenzen auf Jugendliche, die sich früh mit der Computerwelt und mit Video Games auseinandergesetzt haben, vergebens sucht man Hinweise auf Computer Clubs und User Groups, die sich jahrelang getroffen haben und eine wichtige Basis für die IT wurden, vergebens sucht man Hinweise auf die vielfältigen Aktivitäten der Demoscene oder den Bemühungen der jungen Game Entwickler in der Homecomputerszene oder die Tauschgeschäfte der jungen Game Enthusiasten. Im dicken Buchkatalog findet sich einzig eine Referenz zu einem Spielsalon (Stapherhaus 1997:265). Und zwar in einem Artikel zur Jugendsprache, indem ein Bild dreier Jugendlicher abgedruckt wird, die an einem Flipperkasten spielen. Die Bildlegende liest sich: „Eigene Sprechweisen zur Identifizierung und Abgrenzung: Jugendliche im Spielsalon.” Ein konkretes Beispiel aus dem Spielsalon oder mehr zum Kontext der flippernden Jugendlichen oder der Spielsalons (Arcades) findet sich leider nicht. Das Bild illustriert lediglich veränderte Sprechweisen bei Jugendlichen in der Freizeit.

Ganz am Ende des Buches kommt der Computer dann doch noch zu Ehren in einem sehr allgemein betitelten Beitrag „Jugend, Computer und Internet“. Typisch für die Zeit ist, dass Manfred Schiefer uns hier denn zuerst in die vermeintlichen dunklen Untergründe von Jugendlichen führt, die den Computer zur Freizeitgestaltung einsetzen (Stapherhaus 1997:323). „Da werden die asozialen Vereinsamten heraufbeschworen und die durch ständige Konfrontation mit gewalttätigen Ballerspielen verrohten Kids herbeigeredet.” (ibid.) Er zitiert dabei das beinahe apokalyptische Buch “Computerkinder” von Claus Eurich (1985), der davor warnte, dass die Computerwelt das Kindsein zerstöre. Und Schiefer stellt fest, dass auch noch 1997 die Realität der Computernutzung in den Medien eine stark Verzerrte ist: „Das durch Verallgemeinerung vereinzelter Auswüchse verzerrte Bild der Realität verstellt zum Teil noch immer die Sicht auf die Tatsachen. Boulevardblätter entdecken neuerdings die Internetsüchtigen, so wie sie vor Jahren die „Computeropfer” gesucht und gefunden haben.” (ibid.)

In den folgenden Abschnitten argumentiert Schiefer dann für das Akzeptieren des Computers nicht nur im Berfufsleben, sondern in vielen Bereichen des Lebens. Und er stellt fest, dass 1997 auch Computerspiele zum Alltag gehören und längst zu einem Bestandteil der Jugendkultur geworden sind. Einen Abschnitt weiter erzählt er dann immerhin noch vom interviewten 22 Jahre alten Jürgen, der zum Computerfreak geworden war und mit einem Freund zusammen begonnen hatte auf einem Amiga zu programmieren. Bald hätten sie dann auch im Internet weiter getüftelt. Leider geht Schiefer nicht weiter auf die Aktivitäten seines interviewten Jugendlichen ein, sondern verfällt in allgemeine Feststellungen von Netzgewohnheiten und zitiert mit René einen weiteren Jugendlichen, der in seiner Freizeit seinem lokalen Jugendhaus einen Gratis-Internet-Auftritt erstellt habe. Abschliessen tut er seine kleine Interviewreihe mit Nils, den er als Jugendlicher identifiziert, der ein durchschnittliches Verhalten zum Computer zeigt. Ein durchschnittliches Computerkind ist seiner Meinung nach im Jahre 1997 ein Jugendlicher, der seinen eigenen Computer nur selten einmal für Schulaufgaben benutzt und ihn vorwiegend als Spielgerät einsetzt. Er gibt uns leider nicht einmal einen Hinweis, welche Spiele Nils denn gespielt hatte. Dafür weiss Schiefer, dass Eltern gerne Computer für ihre Kinder anschaffen und sich auch, wenn meist praktisch nur darauf gespielt wird, darüber hinweg trösten, dass der Computer die Zukunftschancen ihres Kindes erhöhe. Doch leider würde der Computer (im Jahre 1997) nur von wenigen Jugendlichen wirklich zum Programmieren und für kreatives Gestalten genutzt.

Fazit

Tatsächlich werden Gamekultur und Computer Szenen der 1980er und 1990er Jahre im breit gefassten Katalog zu den Jugendszenen der Schweiz mit keinem Wort erwähnt. Die Leerstelle ist aus heutiger Sicht unübersehbar. Damals wurde die Gamekultur nicht als Phänomen wahrgenommen, sondern als einfache Beschäftigung einzelner Menschen mit einem Büro-, Medien- oder Spielgerät, die sich meist hinter verschlossenen Türen in den Büros und den Wohnungen abspielte. Der gegen Ende des Buches eingefügte Artikel von Manfred Schiefer ist wohl in erster Linie dem Phänomen des Internets geschuldet. Er deutet lediglich an, dass hinter der Beschäftigung mit Computern, Programmen und Spielen eine ganze Kultur mit verschiedenen Szenen verborgen sein könnte, für die Jugendliche in ihren Kinderzimmern das Fundament legten. Dabei war der Zugang so nah: die Spielsalons, die Kaufhäuser, die Tauschbörsen, die Büro-Messen, die vielen Computer-Clubs, die User Groups für einzelne Computersysteme und die Events der Demoscene. An diesen Orten konstituierten sich die Computer Communities, und damit entstand allmählich das, was man gemeinhin als Gamekultur bezeichnen kann.

> Mehr zur Schweizer Demo- und Cracker Szene findet sich im nachstehenden Link.

https://www.srf.ch/audio/digital-podcast/auf-den-spuren-der-demo-und-cracker-szene?id=AUDI20241227_NR_0032

> Mehr zur Schweizer Game Design Szene jener Jahre findet sich über folgenden Link.

Literatur

Eurich, Claus (1985), Computerkinder. Wie die Computerwelt das Kindsein zerstört, Rowohlt, Reinbek.

Schiefer, Manfred (1997), Jugend, Computer, Internet. In: Stapferhaus Lenzburg. a walk on the wild side. jugendszenen in der schweiz von den 30er jahren bis heute. Chronos Verlag Zürich, S. 322-326.

Stapferhaus Lenzburg (1997), a walk on the wild side. jugendszenen in der schweiz von den 30er jahren bis heute. Chronos Verlag Zürich.

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